Die Macht des Atems beim Klettern

Der Atem – der Beherrschbare unter den Autonomen

Unser Atem spielt eine besondere Rolle in unserem autonomen Nervensystem. Zum autonomen Nervensystem gehören all die Körperfunktionen, die lebenswichtige Aufgaben erfüllen. Beispielsweise unsere Verdauung oder unser Herzschlag. Zum Glück passieren diese Vorgänge in unserem Körper von allein, daher auch der Name „autonom“. Wir müssen nicht bewusst dafür sorgen, dass unser Herz Blut durch unsern Körper pumpt. Wir KÖNNEN diese Funktionen nicht einmal bewusst steuern. Unsere Verdauung reguliert sich von allein, unser Herz schlägt schneller, wenn wir uns anstrengen und langsamer, wenn wir schlafen. Verantwortlich dafür ist das Zusammenspiel von Parasympathikus und Sympathikus. Sind wir relaxed, ist der Parasympathikus aktiv. Unser Herzschlag ist ruhig, unsere Muskulatur entspannt. Unser Darm dagegen ist aktiv, die Verdauung in vollem Gange. Ist hingegen der Sympathikus aktiv, sind wir auf Leistung eingestellt. Unser Herz schlägt schnell, unsere Muskeln sind aktiviert. Im Gegenzug wird unser Verdauungssystem gedrosselt. Schlau von unserem Körper. Denn stellen wir uns vor, unsere Vorfahren hätten ihre Flucht mit einem Gang zum stillen Örtchen unterbrechen müssen – das hätte sie vermutlich ihr Leben gekostet.  

Unser Atem – Das Tor zum autonomen Nervensystem

Unser Atem spielt deshalb eine so besondere Rolle, weil er die einzige Körperfunktion des autonomen Nervensystems ist, die zwar unbewusst abläuft, wenn wir nicht darauf achten (sicherlich habt ihr unbewusst geatmet, während ihr die letzten Zeilen gelesen habt), die wir aber auch ganz bewusst selbst steuern können. Atme doch einfach mal tief ein und vollständig aus – und schon siehst Du, wie viel Macht Du selbst über Deine Atmung hast! Das macht unseren Atem gewissermaßen zu einem Tor zu unserem autonomen Nervensystem! Wir können ihn als Hebel nutzen, mit dem wir Sympathikus und Parasympathikus beeinflussen können. Und darin liegt richtig viel Potenzial beim Klettern!

Atem beim Klettern

Die Atmung beim Klettern

Grundsätzlich übernimmt der Sympathikus die führende Rolle, sobald wir in eine Route einsteigen. Denn immerhin wollen wir Leistung erbringen, strengen unsere Muskeln an und sind mental fokussiert darauf, etwas zu schaffen. Das ist gut. Denn der Sympathikus sorgt dafür, dass unser Herz feste pumpt und unsere Muskeln mit ausreichend Sauerstoff versorgt. Und er hilft uns dabei, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren und unseren Fokus zu behalten.

Doch gibt es beim Klettern auch Situationen, in denen uns der Parasympathikus weiterhelfen kann. Beispielsweise in guten Rastpositionen. Wenn es uns hier gelingt, den Parasympathikus zu aktivieren, können wir unsere Muskeln besser entspannen und schneller neue Kraft für die restliche Route schöpfen. Oder, wenn uns die Angst in einer Route überfällt. Nun läuft der Sympathikus auf Hochtouren – das Herz schlägt noch schneller als zuvor, unser Atem wird schnell und flach. Die Folge: Unser Körper ist maximal angespannt. Unsere Muskeln laufen zu, die Angst wird noch größer, weil wir merken, dass wir uns nicht mehr lange halten können. Ein kleiner Teufelskreislauf – und die Rettung kann unsere Atmung sein.

Einatmen für den Sympathikus, Ausatmen für den Parasympathikus

Grundsätzlich aktiviert das Einatmen unseren Sympathikus, das Ausatmen unseren Parasympathikus. Schicken wir unseren Atem tief in den Bauch, können wir lange und bewusst ausatmen. Atmen wir etwas länger aus, als wir einatmen, übernimmt der Parasympathikus einen aktiveren Part im Zusammenspiel. Unser Herzschlag verlangsamt sich, unsere Muskeln entspannen. Wir können uns erholen und unsere Angst leichter in den Griff bekommen. Kinder schicken ihren Atem noch sehr intuitiv in den Bauch. Doch leider verlernen wir diese Fähigkeit mit den Jahren. Unsere Atmung wird flacher, wir Atmen mehr in den Brustraum als in den Bauch. Und deshalb hilft es, ab und zu zu üben.

Atemübungen jenseits des Kletterns

Ein paar Übungen können uns helfen, unsere Bauchatmung zu verbessern und den Atem beim Klettern bewusst einzusetzen. Auch in unseren Yoga-Stunden für Kletter*innen spielt der Atem eine wichtige Rolle.

Atem beim Klettern

Übung 1: Beobachten, ohne zu steuern

Um Dich zunächst mit Deinem Atem zu verbinden, ist es eine gute Übung, ihn einfach mal bewusst wahrzunehmen – ohne ihn zu steuern! Das klingt einfacher, als es ist.

Setze dich dazu bequem hin oder lege Dich auf den Rücken. Schließe die Augen und beobachte Deinen Atem.  Versuche ihn einfach fließen zu lassen. Beobachte, wie lange das Einatmen und das Ausatmen dauert, wann Du Atempausen machst und welche Teile Deines Körpers sich bewegen.

 

Übung 2: In den Bauch atmen

Nun üben wir bewusst, in den Bauch zu atmen. Wieder suchst Du Dir eine bequeme Sitzposition oder legst Dich auf den Rücken. Lege Deine Hände auf den Bauch und schließe Deine Augen. Stelle Dir vor, dass Du in Deine Hände atmest. Beim Einatmen wölbt sich Dein Bauch nach außen, beim Ausatmen sinkt er ein. Wenn Du möchtest, kannst Du durch die Nase einatmen und durch den Mund ausatmen. Übe das regelmäßig uns verlängere nach und nach die Zeit von einer Minute auf bis zu fünf Minuten.

Bevor Du Deine Augen öffnest, lässt Du Deinen Atem nochmal 4-5 Atemzüge ganz natürlich fließen.

 

Übung 3: Langes Ausatmen

Du fährst vor wie in Übung 2. Doch dieses Mal achtest Du darauf, dass das Ausatmen länger dauert, als das Einatmen. Du kannst mit einem Verhältnis 2:3 beginnen und Dich nach und nach steigern auf ein Verhältnis 1:2 oder sogar 1:3.

Auch hier lässt Du Deinen Atem nochmal 4-5 Atemzüge natürlich fließen, bevor Du Deine Augen öffnest.

 

Übung 4 (für Fortgeschrittene): Atmen in den unteren Bauch

Start wie in Übung 2, nur dass Du eine Hand auf den unteren Bauch (knapp über dem Schambein) und die andere Hand auf Nabelhöhe legst.

Du beginnst damit, in beide Hände zu atmen. Nach ca. 5 tiefen Atemzügen versuchst Du, ausschließlich in Deine untere Hand zu atmen. Vielleicht ist das nicht sofort möglich. Doch gib nicht gleich auf. Für den Anfang reicht es, wenn das in Deiner Vorstellung passiert. Nach ca. 7 Atemzügen in den unteren Bauch, atmest Du wieder in den gesamten Bauch. Du kannst beobachten, was sich vielleicht verändert hat.

Den Atem beim Klettern einsetzen

Nun hast Du ein bisschen geübt und kannst Deine Atmung an der Wand zum Einsatz bringen. Probiere es in folgenden Situationen aus:

 

Rastpositionen:

Achte auf eine Atmung tief in den Bauch. Atme ein durch die Nase und durch den Mund aus. Du kannst die Ausatmung intensivieren, indem Du ein Atemgeräusch beim Ausatmen machst.

 

Wenn die Angst aufsteigt:

Du merkst, Du bekommst Angst? Dann suche Dir zunächst eine Position, in der Du einigermaßen entspannt stehen kannst. Und dann beginne bewusst und tief in den Bauch zu atmen. Du atmest durch die Nase ein und vollständig durch den Mund aus. Versuche, das Ausatmen etwas länger fließen zu lassen als das Einatmen.

 

Vor dem Einstieg:

Bevor Du in die Route einsteigst, atmest du drei Mal tief in den Bauch. Du aktivierst damit deinen Sympathikus und Dein Körper stellt sich auf Leistung ein.

 

Zwischen den Zügen:

Anstrengung und Anspannung führt dazu, dass wir eher flach in die Brust atmen und nicht mehr tief in den Bauch. Um das Zusammenspiel zwischen Sympathikus und Parasympathikus auch zwischen den Zügen zu steuern, kannst Du nach jedem Zug einen tiefen Atemzug nehmen, bevor Du weiterkletterst.

Lass Dich einfach überraschen, was passiert, wenn Du diese Übungen beim Klettern anwendest.