Im Gespräch mit julius Kerscher - Warum Fallen uns manche Routen so schwer?

Warum fallen uns eigentlich manche Routen so schwer und andere so leicht, obwohl in der Theorie der gleiche Schwierigkeitsgrad darunter steht? Und was hat es überhaupt mit dem Thema Schwierigkeitsgrad auf sich? Antworten auf Lenis Fragen gab es in einem Video-Call von Routensetzer Julius und Klettercoach Máté.

Lass Dich von den Antworten für Deine zukünftigen Klettertage inspirieren!

Gespräch Julius Kerscher

Unser Gespräch mit Julius Kerscher

Leni: Julius, die meisten, die einigermaßen ambitioniert in der Halle klettern kennen das bestimmt – Es gibt Routenschrauber*innen, von denen wir die Routen gerne mögen, die uns liegen, die wir leicht klettern können und die uns einfach Spaß machen. Und jene, die uns gar nicht liegen und die wir als schwer empfinden. Woran liegt das?

Julius: Ob einem was liegt oder nicht, ob einem etwas Spaß macht, oder nicht, ist ja zunächst eine Frage der Wahrnehmung. Und ich denke, es ist schwer, das zu objektivieren und an einem Schrauber festzumachen. Eigentlich bin ich der Meinung, dass die meisten Schrauber eine gewisse Variation in ihrer Arbeit drin haben. Natürlich ist es aber auch so, dass man als Routenschrauber eine gewisse Handschrift hat. Vor allem, wenn man im Breitensportkontext schnell viele Routen produzieren muss, wird man leicht dazu verführt, auf bekannte Muster zurückzugreifen. An sich ist das Routenschrauben keine Wissenschaft. Es basiert auf einem Erfahrungswissen und lebt davon, dass man die Routen testet. Im Idealfall nicht nur eine Person, sondern viele. Das macht Routenschrauben genauso zum Gemeinschaftssport wie das Klettern selbst.

Máté: Hier treffen ja zwei Welten aufeinander. Die Welt des Routensetzers und die des Kletterers. Sind die Vorstellungen des Routensetzers völlig abweichend von den Bewegungsmustern der kletternden Person, tut die sich einfach schwer damit, die Bewegungsmuster zunächst zu erkennen und dann auch auszuführen. Und da kommt auch wieder das Thema Wahrnehmung ins Spiel. Wenn ich beispielsweise die ersten Züge als besonders schwierig empfinde, dann ist da mein Fokus darauf und es kann sein, dass ich dann mit einem schlechten Mindset in die Route gehen. Wenn die eigenen Muster dagegen gut mit dem zusammenpassen, was der Routenschrauber von uns verlangt, dann macht die Route auch Spaß und man hat Freude daran.

Leni: Stichwort Spaß: Soll man eigentlich öfter Routen klettern, die einem liegen oder Routen, die einem nicht so gut liegen? Was bringt einen mehr voran? 

Máté: Eine gute Mischung ist da am besten. Wenn ich auf eine hohe Bewegungszahl und viele Routen kommen möchte, sollte ich klettern, was mir liegt und was mir Spaß macht. Wenn ich aber an etwas arbeiten möchte, dann muss ich mir neue Bewegungsmuster aneignen. Und die kann ich mir natürlich leichter aneignen, wenn ich in Routen gehe, die nicht meinem Kletterstil entsprechen. Es kommt einfach auf die innere Einstellung an.

Julius: Ja, das würde ich gerne aufnehmen. Denn ich glaube, es ist wirklich ein ganz wichtiger Punkt, dass man darüber nachdenkt, warum man eigentlich klettert und was man erreichen möchte. Ist es reiner Freizeitspaß? Dann muss das gar nicht verbunden sein mit einem Vorankommen. Aber es gibt eben auch eine sportliche Einstellung, bei der ich vorankommen will. Oder, Máté, zum Beispiel bei deinen Kids in Deiner Trainingsgruppe, bei denen es sogar eine Wettkampfperspektive gibt. Ich persönlich hinterfrage das eigentlich immer, wenn ich klettern gehe: Was will ich denn heute? Geht es um die Freude an der Bewegung, um ein Trainingsziel oder um nochmal andere Faktoren? Allein durch diese Vorentscheidung und die unterschiedliche Wahrnehmung können wir unsere Klettertage sehr stark selbst gestalten. Unsere Psyche ist quasi weicher als der Griff.

Leni: Wir hatten vorhin schon das Thema unterschiedliche Stile von Routensetzern. Máté, Du bist ja sicherlich auch schon zig Routen von Julius geklettert. Wie würdest Du seinen Stil beschreiben?

Máté: Ich habe über diese Frage schon sehr lange nachgedacht. Viele Leute sagen ja: Der Julius schraubt so schön. Ich sehe das in 90% der Fälle auch so, würde aber gerne mal versuchen, das etwas zu konkretisieren. Also was ist so schön an seinen Routen? Einerseits, dass unterschiedliche Bewegungsmuster gefordert werden. Ich muss also nachdenken. Andererseits steht das Technische vor dem Kraftvollen. Ich befinde mich selten in Sackgassen, weil ich keine Kraft mehr habe, sondern viel eher deshalb, weil ich in dem Moment nicht kreativ genug für eine Lösung. In schweren Routen werden die Griffe zwar oft klein bis sehr klein, aber ich habe genug zum Stehen. Am meisten Spaß macht eine Route von Julius, wenn man sie mehrmals klettert. Weil man dann die Bewegungsmuster verinnerlicht und es immer einfacher wird. Dann kommt man in einen Flow und das Klettern macht Spaß. Das meinen die Menschen vielleicht mit: Die Routen vom Julius sind so schön.

Leni: Kannst Du Dich in dieser Beschreibung wiederfinden, Julius? 

Julius: Ich würde zunächst einmal gerne über die 10% reden, die dir nicht gefallen haben, Máté 😉. Was mir gefällt an Deiner Analyse ist der Aspekt, dass man sich Touren mehrfach anschaut und sie sich quasi erarbeiten kann. Denn ich glaube, auch wenn der Ehrgeiz unterschiedlich stark ausgeprägt ist, möchten doch die meisten Fortschritte erzielen. Mir gefällt das gut, wenn ich das an einer Route festmachen kann. Deshalb muss eine Route Spaß machen. Sie sollte sanft losgehen, darf nach oben hin schwerer werden. So hat man eine Chance, an so eine Konfrontation hin zu kommen. Auch wenn man beim ersten Mal scheitert. Das Scheitern ist ja oft etwas negativ behaftet, gehört für mich aber zum Klettern ganz wesentlich dazu. 

Leni: Wie ist das eigentlich für dich, wenn Du eine Route kletterst, die Du selbst geschraubt hast?

Julius: Furchtbar (lacht). Im Ernst – ich klettere auch eigene Touren gerne, aber am liebsten Touren, die mich überraschen. Es ist aber natürlich schwer, das Erlebnis einer gewissen Überraschung für sich selbst zu erreichen. Ab und zu, wenn man in Hallen kommt, in denen noch Touren von mir hängen, die ich aber länger schon nicht mehr besucht habe, dann habe ich diese doppelte Gaudi!

Leni: Wenn wir mal einen Vergleich mit der Literatur wagen, könnten wir ja sagen, Du „schreibst“ die Routen und wir als Kletterer versuchen sie zu „lesen“ und zu „interpretieren“. Wenn Du Kletterer dabei beobachtest, wie sie deine Routen klettern: Wie oft bist Du überrascht über ihre Interpretation?

Julius: Es passiert häufig, dass Routen anders geklettert werden als ich sie klettern würde. Und das ist ja auch nicht verwunderlich. Im Breitensport versuchen wir ja, von kleinen Kindern bis hin zum 2-Meter -Bodybiulder glücklich zu machen. Das wäre ja erstaunlich, wenn die alles exakt gleich klettern. Deshalb haben sich unter den Routensetzern zwei verschiedene Positionen entwickelt. Das eine ist eher wettkampfmäßig oder boulderorientiert. Man schreibt eine Art Choreographie, mit dem Gedanken, es wäre cool, wenn jeder genau diesen Move macht. Das andere ist eher ein Bühnenbau. Ich baue eine Bühne, wie aber jeder darauf tanzt, ist sein Ding. Mein Stil ist am ehesten, dass ich gewisse Strukturen baue, in denen sich jeder seine individuelle Lösung suchen kann. Wir werden eine Route nie für alle gleich erlebbar gestalten können, solange wir unterschiedliche Physiognomien haben. Aber das muss ja auch nicht sein, es soll ja nur allen Spaß machen.

Leni: Du nennst die unterschiedlichen Physiognomien. Ich bin klein. Manch anderer Kletterer kommt von einer Position an den nächsten Griff, von der aus ich ihn gefühlt noch nicht mal sehen kann. Ist die Route nun schwerer für mich oder nur anders? 

Máté: Ich würde schon sagen, dass manche Bewegungen für kleinere oder größere Menschen leichter oder schwerer sein können. Aber man kann nicht pauschal sagen, dass sich größere Leute immer leichter tun. Es gibt auch Beispiele, wie den Sitzstart beim Bouldern, bei dem sich ein 2-Meter-Mann so stark komprimieren muss, dass er keine Chance hat, die Startgriffe zu halten, weil es ihn aus der Wand drückt. 

Leni: Ich hatte jetzt ja eigentlich gehofft, dass Du sagst, kleine Kletterer können beim Schwierigkeitsgrad immer eins dazu zählen, weil es für uns viel schwerer ist 😉

Julius: Das mag situativ auch so sein. Manchmal kann Größe schon einen objektiven Vorteil bedeuten. Es gibt aber beispielsweise auch so kleine Löcher, in die man mit größeren Fingern gar nicht rein kommt oder man steht mit Schuhgröße 45 in einem so ungünstigen Hebel auf einer Platte, dass einem die Waden explodieren. Klettern ist einfach sehr subjektiv. Mein Lieblingsbeispiel: Ich bin mal einen elend breiten, runden Riss geklettert: Das war mit das Anstrengendste, an was ich mich erinnere. Meine Partnerin ist ihn als Kamin geklettert, die kam da einfach so rein. Das zeigt, wie unterschiedlich eine Route sein kann. 

Leni: Das heißt, ihr haltet allgemein nicht viel von Schwierigkeitsgraden? 

Máté: Dein Beispiel Julius: Kamin und Off-Width-Riss. Für Deine Partnerin wahrscheinlich eine 4+, für Dich eine 9-. Um den Kreis zu schließen: Die Schwierigkeit hängt davon ab, was mir liegt und wie mein Körper aufgebaut ist. Entscheidend ist, mit welchem Mindset ich die Schwierigkeit betrachte. Eine plattige 8 kann für mich eine deutlich größere Herausforderung als eine 8 in einem anderen Gelände. Die Schwierigkeit relativiert sich mit der kletternden Person oder in der Halle auch mit der Person, die die Route geschraubt hat.

Julius: Es gibt keine objektiven Schwierigkeitsgrade. Es gibt nur persönliche Herausforderungen, in dem vieldimensionalen Ding zu navigieren, das wir eine Kletterroute nennen. Es ist eine Illusion, dass man so viele Dimensionen, die unser facettenreicher Sport hat, in einer Zahl ausdrücken kann. Wir sind Sklaven der Numerik. Wir sollten uns von den Zahlen lösen und einfach in uns hineinhorchen: Was habe ich gerade für mich erlebt?

Leni: Ich könnte noch ewig mit euch weiterreden. Gibt es noch etwas, was euch zu diesem Thema auf dem Herzen liegt?

Julius: Jo! Was zählt ist das Erlebnis. Das ist für mich ganz wichtig. Das ist ein Spruch von einem der ganz Großen – jeder kann selbst nachrecherchieren, von wem. Wir sind oft stark an messbaren Erfolgen orientiert. Man muss das ab und zu hinterfragen. Schwer klettern hat keinen Wert, wenn man nicht glücklich klettert dabei.  Eigentlich ist es sogar richtig schlecht, wenn man richtig gut klettert, weil dann hat man gar nichts mehr, was man klettern kann. Mittelfeld ist doch eigentlich viel besser, da hat man immer die beste Auswahl. Nein im Ernst: Eigentlich ist doch glücklich Klettern das Ziel. 

Máté: Am Ende des Tages geht es nicht darum, welchen Grad man klettert. Und es geht auch nicht darum, in einer gewissen Zeit einen bestimmten Schwierigkeitsgrad zu erreichen. Es geht um den Weg dahin und darum, den Weg für sich zu erleben. Das macht gleichzeitig viel mehr Spaß und kann ironischerweise am Ende des Tages auch zu dem führen, was man eigentlich ein bisschen aus den Augen verlieren sollte, nämlich den nächsten Grad.

Leni: Das macht doch Mut für die Zeit nach Corona. Wer weiß, wo wir da alle wieder einsteigen werden. Hauptsache, wir fokussieren uns dann auf das Erlebnis und den Prozess. Máté hilft uns sicher gerne dabei 😉. Vielen Dank für das spannende Gespräch mit euch! Und bleibt gesund!