Seil schafft Verantwortung

Verantwortung wird oft im Kontext von Schuldzuweisungen diskutiert. Dabei bezieht sich Verantwortung auf die Verpflichtung, die Konsequenzen bestimmter Handlungen oder Entscheidungen zu tragen. Wenn jemand als verantwortlich angesehen wird, wird er für sein Handeln oder Unterlassen zur Rechenschaft gezogen. 

Beim Klettern und Sichern beginnt für uns Verantwortung viel früher, also nicht erst bei der Rechenschaft, wenn etwas schiefgelaufen ist. Für uns bedeutet Verantwortung, das Bestmögliche im Sinne meines oder anderer (auch körperlichen) Wohlergehens zu tun. Und zwar zu jeder Zeit. Wir haben also ein Ziel. Und dieses Ziel lautet: Unfälle beim Klettern bestmöglich vermeiden. Und dennoch kommt es leider immer wieder zu Unfällen. Dann wird die Frage nach der Verantwortung plötzlich laut… Hat sich der Knoten gelöst? Ein bewusst und aktiv durchgeführter Partnercheck hätte mit großer Wahrscheinlichkeit den Unfall vermeiden können. Ist das Seil gerissen? Eine konsequente und wachsame operative Inspektion der Hallenbetreibenden hätte den eingeschliffenen Umlenker erkennen müssen. Ein harter Aufprall der kletternden Person an der Wand? Der Kletternde hätte weniger von der Wand wegspringen können und der Sichernde weicher sichern können. Ein Kind fällt im Kursgeschehen von der 5. Exe auf den Boden. Der Trainer hatte vielleicht nicht an die Hintersicherung gedacht oder er war über die Möglichkeit, Kinder beim Sichern zu Hintersichern, nicht aufgeklärt. Dann könnte hier in Zukunft eine Schulung von den großen sportlichen Vereinen & Verbänden notwendig sein.

 

Doch warum wird die Frage nach Verantwortung so oft erst dann gestellt, wenn es laut unserer Definition eigentlich schon zu spät ist? Wenn das Wohlergehen bereits beeinträchtigt wurde? Wie können die verschiedenen Instanzen, die beteiligt sind, in unserem Verständnis Verantwortung übernehmen?

Verantwortung beim Klettern

Verantwortung auf verschiedenen Schultern

Verantwortung sollte und kann nicht einfach individualisiert werden, häufig sind größere Instanzen & Strukturen prägend für den individuellen Umgang mit der Verantwortung und das Eingeständnis dieser. Zum Beispiel kann eine Kletterhalle den Einlass an bestimmte Voraussetzungen knüpfen. Dies sollte nicht als Kontrolle der Klettercommunity verstanden werden, sondern als Beitrag zu weniger Unfällen. Eine diesem Ziel wohlgesinnte Kletterhalle weiß, dass Klettern Gefahren birgt und dass Sichernde Personen ohne eine Sicherungsausbildung signifikant mehr zu Unfällen beitragen, als eine Person, die eine Ausbildung genießen durfte. Das bedeutet sicherlich nicht, dass jede Person ohne Ausbildung durch sein Sicherungsverhalten zu Unfällen beitragen wird, oder “schlecht sichert”. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist jedoch größer. Hätten wir nur gut ausgebildete Leute, würden weniger Unfälle passieren.

 

Um dieses “weniger” geht es. Denn jedes “weniger” summiert sich zu einem größeren Rückgang der Unfälle auf. Kletterhallen können sich also diesem Ziel bewusst widmen. Sicherlich werden finanzielle Herausforderungen und notwendige Veränderungen auftreten. Und diese können sehr lähmend und anstrengend sein. Es ist eine Entscheidung, diesen Preis als Kletterhalle zahlen zu wollen. Die Kletterhalle der ZHS (Zentraler-Hochschulsport-München) zeigt einen einfachen Schritt auf: eine Kletterberechtigung (Kurs / Vorstiegsschein) ist die Voraussetzung für die Nutzung der Wände. Dadurch werden die Unfälle, welche auf den Mangel einer kompetenten Ausbildung zurückzuführen sind, im statistisch gleichen Maße zurückgehen, wie dieser Aspekt zu einer höheren Unfallbeteiligung beiträgt. Eine zielführende Maßnahme.

Menschliche Hürden auf dem Weg zur Verantwortung

Bei manchen Profis mag sich jetzt der Magen zusammenziehen beim Gedanken daran, einen Vorstiegsschein überhaupt zu machen oder aufzufrischen, obwohl ja schon eine jahr(zehnte)lange Erfahrung vom Kletterbuckel spricht. Und hier gehen wir den Schlenker zum Verantwortungsbereich der individuellen Kletter*innen: Statistisch gesehen spielt es keine Rolle, wie viele Jahre bereits auf dem Kletterbuckel vorhanden sind. Unfälle betreffen alle Erfahrungsklassen gleichermaßen. Dieses Wissen darf mit selbstbewusster Demut betrachtet werden und uns unsere Verantwortung verdeutlichen. Doch gibt es menschliche Eigenschaften, die es uns erschweren, Verantwortung im Sinne der oben genannten Definition zu übernehmen: 

 

#Erstens: der Mensch liebt das Gewohnte. Gewohnte Verhaltensweisen, Weltanschauungen, mentale Strukturen. Eine sichernde Person, die vor 40 Jahren das Sichern gelernt hat, sichert weniger nach den neuen Standards / Lehrmeinungen, als eine Person, die das Sichern im Jahr 2023 in einer professionellen Umgebung erlernt hat. Lehrmeinungen entwickeln sich historisch und praktisch aus den Fehlern der Vergangenheit. Die Einführung des Partnerchecks ist so eine historische Entwicklung, die sicherlich mehr Unfälle vermieden hat, als das direkte Losklettern nach dem Wir-Ratschen-Prinzip. Ebenso die Einführung von Halbautomaten und Autotubes. Manchmal müssen wir Gewohntes loslassen und Neuem eine Chance geben, um Verantwortung zu übernehmen. Das fällt schwer. “Ist ja die letzten 40 Jahre auch nichts passiert…” mag zwar im ersten Moment Recht geben, entspricht aber nicht der Maxime, zu jeder Zeit das Bestmögliche für die Unversehrtheit meines Kletterpartners/ meiner Kletterpartnerin zu geben. 

 

#Zweitens: Der Mensch mag das Fallen nicht. Zumindest viele von ihnen. Wer das Klettern in aplinen Landschaften gelernt hat, weiß, dass jeder Sturz eine objektive und reale Gefahr sein kann. Doch auch im Breitensport  in der Halle und bei den jüngeren Generationen zeigt sich diese evolutionäre Beklemmtheit des Fallens. Viele wollen lieber gemütlich und stressfrei klettern, Stürze ins Seil sind eher selten. Die Folge: wahrhaftiges und reales Feedback zur Sicherungsweise bleibt oft aus. Viele werden nie in Erfahrung bringen, ob sie einen Sturz auch gut und weich sichern könnten. Wir haben kürzlich erst erläutert, warum das Vermeiden von Stürzen nicht unbedingt zu mehr Sicherheit führt. So ist es also sicherlich für alle Generationen ein Gewinn, an einem Sicherungsupdate teilzunehmen. Stell dir vor: neu gewonnenes Wissen & Erfahrung! Zwei Beschreibungen, die auf eine Person zutreffen, welche als Vorbild in der Community was vorleben kann. Mit Bestpractice zu einem gesunden Sicherungsverständnis im eigenen Umfeld beitragen kann. Ja, dies erfordert Mut, sich mit sich selbst und seinen Gewohnheiten auseinanderzusetzen und eigene Muster zu hinterfragen.

 

#Drittens: Rückmeldung geben (und annehmen), fällt vielen schwer! Wir reden einerseits nicht gerne Tacheles, weil wir vom Gegenüber nicht zurückgewiesen werden wollen, andererseits tragen wir ein geschwächtes Selbstbild mit uns rum, das Rückmeldung häufig als Kritik an der eigenen Person wahrnimmt.Und dabei könnten wir alle mit einer gesunden und verbindenden Rückmeldekultur so sehr wachsen. Lernen durch Rückmeldung und die eigene Wahrnehmung beim Sichern.  Doch eine wertschätzende und wirksame Rückmeldekultur gibt es nicht ohne die Übung und das positive Erleben solcher Situationen. Und hier können wir wieder eine weitere Instanz mit in die Verantwortung nehmen: Verbände haben bereits Ansätze vorgetragen. Und manche Kletterhallen leben diese bereits auf die eine oder andere Weise. Auch hier zeigt sich: In diesen Kletterhallen werden weniger Sicherungsfehler gemacht. So einfach klingt das: Ein bisschen Rückmeldekultur und schon können wir wieder für weniger Unfälle sorgen! Kletterhallen und Verbände können hier auf jeden Fall mehr entsprechende Angebote schaffen, welche die bereits gegebenen Vorschläge aufgreifen und die Multiplikator*innen bei der Anwendung schulen und unterstützen.

    Wir Trainer*innen sind übrigens auch nur Menschen! Und unterliegen gerne mal dem Dunning-Kruger-Effekt. Dieser zeigt den Zusammenhang unserer tatsächlichen und der selbst wahrgenommenen Kompetenz auf. Am Ende unserer ersten Ausbildung neigen wir sicherlich dazu, das angeeignete Wissen als Wissen-Maximus wahrzunehmen. Erst später merken wir, dass es da noch viel mehr zu Wissen gibt, geschweige denn in der Praktik geübt werden muss. In Kombination mit der oben beschriebenen Kritikschwäche, bleiben einige Trainer*innen an einem bestimmten Narrativ hängen und verwehren sich ihre eigene Weiterentwicklung und geben überholtes Wissen & Kompetenzen an die Kursteilnehmer*innen weiter. 

     

    Verbände könnten hier ebenfalls mehr Fortbildungen als Voraussetzung für den Erhalt der Lizenz initiieren, welche gezielt sicherheitsrelevantes Wissen konsequent vermitteln. Verbände, welche Trainer*innen ausbilden und die Trainer*innen selbst haben also hier die Möglichkeit, ihren Teil zur Gesamtverantwortung beizutragen.

     

    Und meine persönliche Verantwortung? Ich hinterfrage mein Tun, reflektiere jeden einzelnen Kurs, höre mir andere Stimmen & Meinungen an, höre sichernden Personen zu, lese Statistiken und schreibe diesen Blogartikel. Ich möchte die Community dazu bewegen, sich selbst zu hinterfragen. Denn nur, wenn wir das gewohnte Umfeld verlassen, ist es möglich, Veränderungen voranzutreiben. Jeder verhinderte Grounder ist es Wert!

    Du willst Dich gerne mit unserer Unterstützung mit dem Thema Sicherheit beim Klettern auseinandersetzen? Beispielsweise bei einem gemeinsamen Sturz- und Sicherungstraining? Dann freuen wir uns auf Deine Buchung!